Bodemann über Böhmert, die ganze Wahrheit

Ralf Bodemann hat ein weiteres Buch aus unserem Programm rezensiert, Frank Böhmerts EIN ABEND BEIM CHINESEN:

Der Berliner Schriftsteller Frank Böhmert ist dem SF-Publikum in den letzten Jahren vor allem durch Veröffentlichungen im Rahmen der Perry-Rhodan-Reihe aufgefallen: aus seiner Feder stammen »Der Sternhorcher« (Band 4 der Miniserie »Andromeda«), »Die Traumkapseln« (Band 4 der Miniserie »Odyssee«), »Die Psi-Fabrik« (Band 5 der Miniserie »Die Posbis«) sowie zwei Heftromane aus der laufenden Serie.
In den Jahren davor hat er mehr oder weniger regelmäßig Storys veröffentlicht. 24 seiner besten liegen nun vor: als Band 6 der Reihe »AndroSF«, erschienen in Michael Haitels Verlag p.machinery (www.pmachinery.de).
Böhmert schreibt aus Spaß an der Freud’. Und er schreibt das, was ihm gerade Spaß macht. Dabei schert er sich einen Dreck um Genre-Einordnungen und Genre-Konventionen, bisweilen missachtet er sogar goldene Regeln der Plot-Gestaltung. Entsprechend originell und unerwartet fallen denn auch einige Ergebnisse aus.
Dabei ignoriert Böhmert keinesfalls das literarische Erbe. Er greift explizit Elemente aus Horror, SF, Fantasy oder Märchen auf, um sie spielerisch zu verarbeiten. »Verfremden« wäre schon zu viel gesagt; der Autor erweist den Vorlagen durchaus Respekt und will sie keinesfalls runtermachen. Eher geht es ihm darum, dem Spektrum der Genres neue Facetten zu erschließen.
Aber in erster Linie will Böhmert Geschichten erzählen. Geschichten, die den Leser gleich mit dem ersten Satz gefangen nehmen und in ganz eigene Welten mit faszinierender Atmosphäre entführen. Geschichten, deren Figuren dem Leser leibhaftig und lebendig vor Augen stehen, in denen er sich oftmals selbst wiedererkennt. Geschichten, die dem Leser intensive Erlebnisse verschaffen.
Und Böhmert kann schreiben. Er verfügt über eine Bandbreite an Stilen und kann deshalb jedem seiner Protagonisten eine eigene Sprache verschaffen: Dabei trifft er den Ton pubertierender Jungs im Landheim genauso wie den eines verbitterten, von aller Welt verachteten Greises. Seine Beschreibungen treffen den Nagel auf den Kopf, ohne aufdringlich zu wirken. Den meisten Storys ist ein leichter, mitunter schnoddriger Ton eigen. Böhmert kann aber auch nachdenkliche oder ernste Töne anschlagen.
Freilich, nicht jede Auster enthält eine Perle. Böhmert hat auch einige unveröffentlichte, experimentelle Texte aufgenommen. Experimente misslingen bisweilen; dennoch tragen auch diese Texte zum Gesamtmosaik bei und beleuchten interessante Facetten der böhmertschen Ideenwelt. Man bekommt eine Ahnung, welche Etüden ein Autor anfertigen muss, bis er eine eigene Stimme und ein publikationsreifes Niveau erreicht.
Eingeleitet wird der Band mit einem Vorwort von Hannes Riffel, der keinen Hehl aus seiner Sympathie für den Autor und den Spaß beim Lesen der Geschichten macht. In einem Anhang liefert Böhmert selbst mehr oder weniger zuverlässige Angaben über frühere Veröffentlichungsorte – Böhmert sammelt nach eigener Aussage keine Belegexemplare und pflegt auch keine Veröffentlichungsliste – sowie Anekdoten über Entstehung, Reife und Rezeption seiner Geschichten.

Was erwartet den Leser nun im Einzelnen? Einige Anspieltipps:
DER BAUM BEIM BLUTBUNKER: Im Schullandheim unterhält ein Junge seine beiden Freunde mit selbst erfundenen Gruselgeschichten, was auch das ungeliebte Geschirrspülen erleichtert. Als er verbotenerweise auf einen Baum klettert, entdeckt er an der Spitze ein rätselhaftes Vorratslager. Ja, so haben wir uns damals als 10–12jährige gefühlt. Die Gruselheftchen hatten etwas Anrüchiges an sich, zeigten uns aber die dunkle Seite unserer kleinen Seelen auf. Und die Lehrer konnten die reinsten Spielverderber sein. Unglaublich, mit welch leichter Hand Böhmert diese Erinnerungen anzapft und wiederauferstehen lässt!
PECH FÜR OPA: Sascha wurde endlich Vampir – auch wenn er stark nachhelfen musste, bis ihn die Fledermaus endlich gebissen hatte. Sogleich macht er sich daran, weitere Vampire zu erzeugen. Sein erstes Opfer: Opa. Aber was er ihm abbeißt, kommt erst beim Mittagessen im Familienkreis auf den Teller. Eklig, faszinierend, brutal – die Pointe voll auf die Zwölf! Wieder zeichnet Böhmert auf authentische Weise die kruden Fantasien nach, die in den Gehirnwindungen ganz normaler 10jähriger Jungs entstehen. Die Story ist von Anfang an abstoßend und verstörend, aber der Schluss lässt einem die Eier schrumpeln.
LOVE BUG: Der 13jährige Mike entdeckt einen schrottreifen VW-Käfer, der er zu seinem »Love Bug« umbaut. Hier soll sein erster Liebesakt mit Jeanette stattfinden. Wenn da nicht noch ein Freund, zwei jüngere Brüder, genannt Panik und Chaos, und vor allem Jane wären. Ja, genau solch romantische Träume hatten wir damals in der Pubertät, genau so wollten wir unsere erste Freundin aufreißen. Und genauso kläglich ist dann alles an irgendwelchen Kleinigkeiten gescheitert.
IN DER HAUPTSTADT: Gaiser wird bei einem Trip ins alte Berlin fast von Skinheads erschlagen. Er beschwert sich bei der Virtu-Trip-Firma. Aber was ist real und was ist virtuell? Schönes Vexierspiel nach Motiven von Philip K. Dick. Bekanntes Muster, aber gut erzählt.
HAMMER TV: Maban entdeckt eines Morgens Bisswunden in seinem Hals. Sein Arzt kann nichts feststellen, aber Maban verspürt zunehmend Appetit auf rohes Fleisch. Süße Vampir-Story mit netter Medien-Pointe.
IHRE KÖRPER: In einem Raumschiff findet sich »Jonas« ein, ein kugelförmiges Alien, das alles verschluckt, was man ihm zuführt. Der Ich-Erzähler überlebt als einziger, weil er wilde Bilder malt. Und er kommt hinter Jonas’ Geheimnis bzw. seine Funktion. Diese spannende, rundum gelungene SF-Story schrieb Böhmert gemeinsam mit Hermann Ermer. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Variante von Ridley Scotts Klassiker »Alien« zu handeln. Der geniale Twist am Ende beseitigt jedoch jeglichen Unrat. Ein Highlight!
DIE HUBSCHRAUBER: Das Landesarbeitsamt wird von Hubschraubern attackiert und von Soldaten einer Spezialeinheit gestürmt. Der Chef wird erschossen, aber sonst läuft alles seinen gewohnten Gang. Beim Lesen hört man die ganze Zeit das Knattern der Rotorblätter. Böhmert zeichnet eine ultraböse Satire auf Beamtenmentalität mit beklemmender Atmosphäre.
AM KATZENBACH: Eine Frau flaniert frühmorgens durch die Katzbachstraße. Sie wird von verschiedenen Ladeninhabern angesprochen, aber keiner kann sie erreichen. Traurige, treffende Studie einer Depressiven; sehr berührend.
SPERRMÜLL: Ein heruntergekommener 70jähriger, immerhin körperlich noch fit, findet auf dem Sperrmüll ein ausrangiertes Krankenbett. Das gibt den Anstoß für grundlegende Änderungen in seinem Leben. Böhmert erschafft einen interessanten Protagonisten, einen Loser, der sich wandelt, und würzt das Ganze mit pfeilscharfen Betrachtungen über den Alltagswahnsinn der Besitzenden.
DIE GESCHICHTE VOM FRAUENMÖRDER UND DEN PLAYBOYHEFTEN: Kerner erzählt in einer Altherrenrunde bei Rotwein und Pfeifenrauch ein Erlebnis aus der Zeit, als er noch als Kioskbesitzer arbeitete. Eines Nachts stürmten 20 Polizisten den nahegelegenen Park – aber kein Wort davon in den Zeitungen … Ein Kabinettstückchen über die Kraft der Fantasie, die Mücken in Elefanten verwandeln kann. Prädikat: großartig!

Ein Held hat es Böhmert besonders angetan: Harry taucht gleich in drei Geschichten auf. Böhmert lässt ihn durch den normalen Alltagswahnsinn torkeln und im Abschluss der Trilogie genau darin auch umkommen.
HARRY WILL WALROSS WERDEN: Eines Freitags beschließt Harry, Walross zu werden. Er lässt sich sieben Barthaare stehen, legt sich in die Wanne und grunzt fortan. Aber seine Tochter muss in den Kindergarten. Süße Geschichte, die auch für Kinder geeignet ist, fantasievoll und total nett geschrieben. Der arme Harry darf einfach nicht sein, was er gerne möchte.
EIN ABEND BEIM CHINESEN: In einem chinesischen Restaurant trifft sich Harry mit seiner Ex-Frau Jenny. Die beiden reden über mehr oder weniger Belangloses und fühlen dabei mehr oder weniger Belangvolles. Ein Kammerstück! Oberflächlich passiert kaum etwas, aber darunter brodelt der Dschungel der Gefühle. Das alles arbeitet Böhmert mit einer scheinbar einfachen, tatsächlich aber hochpräzisen Sprache heraus.
DAS LAGER: Harry lässt sich über das Wochenende im Lager einschließen, plündert die Biervorräte und verwüstet die halbe Jahresproduktion. Am Montagmorgen kommt es zum Showdown. Das Protokoll eines Amoklaufs gegen inhumane Arbeitsbedingungen. Starke Szenen, heftige Details, Böhmert verliert jedes Maß und der ausgeflippte Harry sein Leben! Diese Harry-Geschichte ist ganz sicher nicht mehr für Kinder geeignet.

Die Collection »Ein Abend beim Chinesen« enthält ein buntes Kaleidoskop an unterschiedlichsten Storys. Böhmert lässt den Leser schmunzeln, laut auflachen, nachdenklich oder traurig werden, sich gruseln, ekeln, vor Aufregung die Fingernägel abnagen und vor Überraschung den Kopf schütteln – aber langweilig wird die Lektüre niemals. Wer einen abwechslungsreichen, unterhaltsamen »Abend beim Chinesen« verbringen möchte, dem sei Frank Böhmerts Story-Sammlung dringend ans Herz gelegt.