INZUCHT: Rezension im Phantastischen Bücherbrief

Erik Schreiber hat in seinem Phantastischen Bücherbrief, Ausgabe 577 (Dezember 2011), eine ausführliche Rezension zu STORY CENTER 2010: INZUCHT UND DIE DENKBARE GESELLSCHAFT abgeliefert, die wir hier nicht vorenthalten möchten.

Herausgeber Michael Haitel: : INZUCHT UND DIE DENKBARE GESELLSCHAFT
p.machinery (11/2011), 343 Seiten, 14,90 EUR
ISBN: 978-3-942533-13-3 (TB)

Titelbild: Sabine Meyer
Arndt Waßmann: Die Kinder der Zukunft
Frederic Brake: Stammesriten
Marianne labisch: Neubeginn?
Jutta Schönberg: Die Außenseiterin
Matthias Falke: Das Zeit-Bran
Holger Mossakowski: SaveTheWorld Unlimited
M. E. Rehor: Outcast
Abel Inkun: Kinder des Mondes
C. J. Knittel: Die Geächteten von Canopus 3
Mark-Cenis Leitner: Aufbruch der Gestrandeten
Carmen Mayer: Exzest
Sigrid Lenz: Meias Geheimnis
Carmen Matthes: Das dunkle Geheimnis
Sven Klöpping: Die Suchtmaschine (What a Feeling)
Elisabeth Meister: Hochzeitstag
Arno Endler: Nicht von dieser Zone
Friedhelm Rudolph: Alles ist gut
Galax Acheronian: Familienbande
Vincent Voss: Danach

Das Thema der Ausschreibung für diese Science Fiction Anthologie war Inzucht. Salopp gesagt, ein Familienspiel und schon sind wir wieder bestimmten Klischees verhaftet. Fast keiner geht den Schritt weiter, darin eine denkbare Gesellschaft zu sehen. Ich bin durchaus kein Freund dieser Praktiken, kann mir aber gewisse Gedankenspiele nicht verkneifen. Um so überraschter war, ich als ich von Michael Haitels Projekt erfuhr. Dass es dabei Schwierigkeiten geben würde, war mir schnell klar und als er davon erzählte, war ich nicht überrascht. Die Vielfalt der Ideen, mit denen seine Autorinnen und Autoren an das Thema herangingen, überraschte mich schon. Eine spannende Geschichte war in jedem Fall gegeben und trotz des etwas einengenden Themas, nie gleich. Jede Autorin / Autor schaffte es, eine eigene Geschichte mit Hintergrund zu entwickeln, ohne den Effekt »habe ich doch gerade schon gelesen« herbeizuführen. Der wichtigste Punkt der Kurzgeschichtensammlung war für mich jedoch, dass hier keine Praktiken der Inzucht beschrieben wurden, sondern der berühmte Anfang des Fragesatzes »Was wäre wenn …« bemüht wurde. Neunzehn Mal »Was wäre wenn … eine Gesellschaft sich auf Inzucht aufbaut oder davon hauptsächlich betroffen ist.« und neunzehn Mal eine andere Antwort. Wenn neunzehn Autoren sich diese Fragen stellen, wird es neunzehn gute Geschichten geben und bestimmt neunzehn Mal so viele gute Ideen.
Herausgeber Michael Haitel wagte sich mit Inzucht an ein Tabu-Thema heran. Betrachtet man die aufgepeischten »Möchtegern-Journalisten«-Traktate, wird einem schon etwas mulmig. Aber die Science Fiction wagte sich schon immer an heikle Themen und wurde mehr als nur einmal verflucht, verdammt, verboten. Betrachtet man Angelika Merkels gelebtes 1984, so wissen wir, George Orwell hatte recht. Andererseits wird gerade dieses Thema benutzt, um Politikerinnenkarieren neuen Schwung zu verleihen.
Nicht nur Utopien, auch Gegen-Utopien finden sich in dieser Sammlung.

Arndt Waßmann: DIE KINDER DER ZUKUNFT
Der Einsatz eines Virus, der die Gene des Menschen veränderte, wurde in einem lange zurückliegenden Krieg eingesetzt. Dieser Virus hatte zur Folge, dass nur noch Geschwister miteinander Kinder zeugen können. Die Geschichtsstunde in der Schule führt nun dazu, dass die fünfzehnjährige Hannah Lifson und ihr ein Jahr älterer Bruder Sven die wahren Hintergründe erfahren. Gleichzeitig erfährt Hannah, sie ist nun in der Lage Kinder zu bekommen.

Frederic Brake: STAMMESRITEN
In einer theoretischen Unterweisung erklärt Dr. Herrmann Herrn Berner, wie es zum Aussterben des Neanderthalers kam. Anhand eines uralten Neanderthalerskeletts wurden Informationen gesammelt und ausgewertet. Die Theorie besagt nun, die Neanderthaler starben aus, weil sie nicht bereit waren, sich mit den Vorgängern der Menschen zu vermischen. Zudem sei ihre Fortpflanzungsrate kleiner gewesen als die des Menschen.

Marianne Labisch: NEUBEGINN?
Irgendwo in der Zukunft, nach einer grossen Atomkatastrophe, wie sie seit den 1960er Jahren immer wieder auftritt. Die Katastrophe wurde angeblich durch Menschen verursacht, die dem Alkohol zugeneigt waren. So kommt es, dass Ulca zwar den Säufer Manam liebt, doch bei Strafandrohung nicht heiraten darf.

Jutta Schönberg: DIE AUßENSEITERIN
Regida ist eine Maldau. Diese Personen, ob Mann oder Frau sind mit PSI-Fähigkeiten gesegnet (oder gestraft, je nach Sichtweise). Sie sind in der Lage Gedanken zu lesen und Materialienmittels Gedankenkraft zu bewegen und ähnliches Mehr. Die Ich-Erzählerin wurde wegen dieser Gabe von ihrem Volk, den Bakiri, geächtet und verbannt.
Die Ich-Erzählerin hat zwei Probleme. Wegen ihrer Fähigkeiten wird sie bei den Dunkelhäutigen Bakiri zur Aussenseiterin. Gerade wegen ihrer Fähigkeiten wird sie bei den hellhäutigen Deledon, mit einem Mann zwangsverheiratet. Dort ist sie aberwegen der Hautfarbe ebenfalls eine Aussenseiterin.

Matthias Falke: DAS ZEIT-BRAN
Agent Straner soll im Auftrag des rangkorischen Senators Francis Brighton tätig werden. Straner soll herausfinden, wohin Tobey Richards verschwand. Wo ist der alte Freund des Senators und warum gibt es keine Unterlagen mehr über ihn? Besteht eine Verbindung zu einer vor Jahrzehnten verschwundenen Handelsdelegation?
Netter SF-Zeitreise-Krimi, aber eigentlich am Thema vorbeigeschrieben.

Holger Mossakowsk: SAVETHEWORLD UNLIMITED
Der namenlose Ich-Erzähler könnte auch der Leser der Erzählung sein. Der erkennt sich allerdings nicht sonderlich in dem Handlungsbevollmächtigten wieder. Eine Blutlinie, ein Labor, ein Klischee nach dem anderen. Ach ja und Weltenretter, sonst hätte die Überschrift keinen Sinn.

M. E. Rehor: OUTCASTS
Während der Verleihung des Nobelpreises wird der Preisträger festgenommen. Kaum inzestös, dafür virös und komatös. Ich fand die Geschichte eher langweilig. Mir fehlte der »geistige Zugang«.

Abel Inkun: KINDER DES MONDES
Die Gesellschaftsschichten auf Mond und Erde sind sehr unterschiedlich geworden. Um der Überbevölkerung Herr zu werden, gründet man Kolonien auf dem Mond. Mittels Cyborgs und genetisch veränderten Menschen soll eine Mondkolonie entstehen, die richtungsweisend ist. Richtungsweisend ist auch die Entwicklung der Menschheit auf der Erde, die sich plötzlich geistig in das Internet einfügen kann. So eine Art »Über«-Facebook. Trotzdem wird die Mondkolonie vergessen.

C. J. Knittel: DIE GEÄCHTETEN VON CANOPUS 3
Bei der Erforschung von Canopus 3 findet die Besatzung des Raumschiffs Lagana das Wrack der Cinderella. Die Cinderella war eines der frühen Kolonistenschiffe, das ungeklärt verschwand. Den Absturz scheint nur ein Geschwisterpaar überlebt zu haben. Die ganze Bevölkerung des Planeten geht auf sie zurück. Seit Generationen sind sie also Opfer und Täter der Inzucht zugleich. Inzucht ist aber ein tödliches Verbrechen.

Mark-Denis Leitner: AUFBRUCH DER GESTRANDETEN
Ein Klon von Faret Milaren stürzte mit einem Erkundungsraumschiff auf einem unbekannten Planeten ab. Vollkommen auf sich gestellt besitzt er die Möglichkeit, die Welt zu bevölkern. Es gibt weitere Möglichkeiten, Klone von ihm herzustellen. Dies nutzt er auch aus, denn eine Unsterblichkeit macht keinen Sinn, wenn man allein ist. Während sich eine kleine Kultur entwickelt, hofft Milaren auf die Rettung durch ein anderes Erdenschiff.

Carmen Mayer: EXZEST
In einem recht unpersönlichen Erzählstil wird uns eine gentechnisch veränderte Welt vorgestellt, in der Inzest zur Normalität wurde und der Geschlechtsverkehr mit anderen ausserhalb der Familie verpönt ist. So schockt Student Daniel gerade seine Schwester Maria, weil er mit der schwangeren Freundin Jenny zuhause auftaucht.

Sigrid Lenz: MEIAS GEHEIMNIS
Wenn Inzucht wirklich hilft, Kriege zu vermeiden und den Raubbau an der Natur zu unterlassen, bin ich sofort dabei, dies auf der Erde einzuführen. So spielt die Geschichte von Meia und ihrem Bruder Katark auf einem anderen Planeten.

Carmen Matthes: DAS DUNKLE GEHEIMNIS
Dunkle Geheimnisse sind dazu da, um aufgeklärt zu werden. Die Studienfreunde Phanuel Padberg und Rimog Rheddenhurst sind mit der gleichen Aufgabe betreut, als sie vom Planeten Xuntus kommend Ghostville besuchen. Ihr archäologischer Forschungswille wird gestört, als im ehemalige Happy Island Bewohner auftauchen.

Sven Klöpping DIE SUCHTMASCHINE
Sandras Bruder, der Ich-Erzähler beschwert sich über das Gesetz, das Sex zwischen Geschwistern verbietet. Und … ?

Elisabeth Meister : HOCHZEITSTAG
Eine schnelle und fesselnde Erzählung um Alina bietet Elisabeth Meister. Die Hauptdarstellerin wurde für würdig befunden, ihren Bruder Bertil zu heiraten. Ihr Vetter Kordan versucht sie zu vergewaltigen, so dass Alina das Weite sucht und vom Regen in die Traufe kommt.

Arno Endler: NICHT VON DIESER ZONE
Arno Endler erzählt eine kurze und gutausgearbeitete Geschichte, in der der Geruchssinn und die Umweltkatastrophen eine besondere Rolle spielen. Als Olahn seine Base Clora heiraten soll, verzichtet er, weil sie potthässlich ist. In seinen Augen. Er geht davon und trifft auf eine wunderschöne Frau. Doch diese »stinkt«. Andererseits gilt das ebenso für die Frau, die den »Stinker« nicht mag.

Friedhelm Rudolph: ALLES IST GUT
Das Mädchen Julanna verliebt sich in Jens-Anders. Und Jens ist tatsächlich anders. Nicht nur, dass er ihr vor langer Zeit weggenommener Bruder ist, nein er ist abartig, denn er ist ein Gesunder. Er gehört damit einer unterdrückten Minderheit an. Der Umgang mit Gesunden ist durch die Herrschenden verboten.

Galax Acheronian: FAMILIENBANDE
Galax Acheronian (wer immer dahinter steckt) bietet mit FAMILIENBANDE eine sehr schöne Fremdkontaktgeschichte. Menschen kommen Mogonen zu Hilfe, deren Raumschiff zerstört wurde. Dabei lernen die Menschen viel über die neuen Nachbarn im All. Vor allem über deren inzestöse Lebensweise.

Vincent Voss: DANACH
Nataschas Papa hat seinen eigenen Willen und lässt den seiner Tochter nicht gelten. Sie soll ihren Vetter Brian heiraten. Dabei kann sie den Kerl nicht ausstehen. Aber Papa Johnson glaubt aufgrund alter Aufzeichnungen herausgefunden zu haben, dass ein Virus nicht innerhalb von Familienmitgliedern übertragen wird. Dass er einem Irrtum unterliegt, der Virus würde das aus Menschen zombieähnliche Wesen machen, zeigt sich, als vier Gesunde Menschen in die Nähe ihres Anwesens gelangen.

Die verschiedenen düsteren Zukunftsvorstellungen sind einfühlsam, kraftvoll, fesselnd, etwas langweilig erzählt. So unterschiedlich wie die Geschichten selbst, ist der von den Autorinnen und Autoren gewählte Stil. Manchmal liegt der Schwerpunkt in der Gesellschaftstheorie, manchmal in einer spannenderen Handlung. Manch eine Geschichte ist etwas naiv beschrieben, bzw. das Ende »zu einfach gestrickt«. Bei manchen Erzählungen beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, andere hatten einen ihnen eigenen Humor. Dann wieder gibt es die starke Frau, die gegen alles rebelliert und sich nicht unterkriegen lässt. Ein SF-Zeitreise-Krimi folgt und weitere Erzählungen mit Notlandungen auf Planeten, leider nur eine Geschichte mit Nichtmenschen, u.a.m.
Ein Nachteil der meisten Geschichten besteht darin, dass sie eine Katastrophe voraussetzen und dann weiterhin auf der Erde spielen. In vielen Fällen wäre es einfacher und glaubwürdiger gewesen, fremde Planeten und Gesellschaften zu nehmen. Eine ausufernde Erklärung wäre dann nicht nötig gewesen. Katastrophen als Auslöser sind leider immer erklärungsbedürftig. Dafür setzten sich ausnahmslos alle Autoren ernsthaft mit dem Thema Inzucht auseinander. Sie, die Autoren, regen mit ihren Geschichten zum Nachdenken über das Tabuthema Inzucht an.

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